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Strukturkonservatismus überwinden

Von Gunnar Göpel, Tagesspiegel Background, 07.07.2022

Der Gesetzgeber will sektorenübergreifende Vergütungsmodelle stärker in den Fokus rücken und die Ambulantisierung der Versorgung stärken. Über den Erfolg wird vor allem entscheiden, ob die Ausgestaltung der Hybrid-DRGs letztendlich kostendeckende ambulante Eingriffe an Krankenhäusern ermöglicht. Der erlaubte Leistungsumfang könnte deutlich erweitert werden.

Ambulantisierung für die Krankenhäuser ist kein Thema, an dem wir vorbeikommen oder vorbeikommen wollen“, sagte Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), gestern bei einem Expertenforum zur Ambulantisierung stationärer Leistungen der RS Medical Consult GmbH in Berlin. „Reformen gelingen bei uns nicht, wenn ein großer Masterplan gemacht und umgesetzt wird.“ Reformen im deutschen Gesundheitswesen seien immer eine „evolutionäre Entwicklung“. Der DKG-Chef sprach von einem „großen Dilemma“, dass es keine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern darüber gebe, wie die Versorgungslandschaft in zehn Jahren aussehen solle.

Ziel der Ambulantisierung müsse es sein, die niedergelassenen Ärzt:innen und Krankenhäuser „enger zusammenzubringen“ und „unter dem Dach des Krankenhauses“ Leistungen zu erbringen, weil dort „die Infrastruktur und das interdisziplinäre Potential“ sei. „Dann können wir der Bevölkerung neue Versorgungsangebote machen, eine Dynamik in das System bringen und ein Stück weit selbststeuernde Effekte herbeiführen“, so Gaß.

Krankenhausplanung werde irrational diskutiert, daher brauche es einen geordneten Strukturwandel unter Einbindung der Länder, sagte Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). „Diese Transformation wird Geld kosten.“ Und „Bundesmittel in die Hand zu nehmen“, sei die „beste Möglichkeit die Länder mitzunehmen“. Darüber könnte ein Strukturwandel angeschoben werden, wenn bestimmte Kriterien erfüllt würden. „Sonst passiert nichts – egal welcher Gesundheitsminister von welcher Partei Reden hält.“ Auch Boris Augurzky, Geschäftsführer des Institute for Health Care Business und Mitglied der Regierungskommission zur Krankenhausreform, beschrieb als Zielbild die Frage, wie möglichst viel Gestaltungsfreiheit auf die regionale Ebene gegeben werden könne. Dabei müsste aber nicht nur über die im Koalitionsvertrag angekündigten Hybrid-DRGs nachgedacht werden, sondern auch über Investitions- und Vorhaltefinanzierung.

Erweiterung des AOP-Katalogs: Nur ein Baustein

Krankenhäuser in Deutschland dürfen seit 1993 ambulante Behandlungen durchführen – das Verzeichnis der entsprechenden Eingriffe ist seitdem weitgehend unverändert. Das IGES Institut hat inzwischen Vorschläge für die Erweiterung des Katalogs ambulant durchführbarer Operationen (AOP) vorgelegt. Statt bislang 2.879 Leistungen könnte der AOP-Katalog um 2.476 neue Leistungen auf insgesamt 5.355 Leistungen anwachsen – von insgesamt rund 30.000 Operationen- und Prozedurenschlüsseln (OPS-Kodes). Der Gesetzgeber will, dass der Katalog substanziell erweitert wird. Das legte er mit dem Anfang 2020 in Kraft getretenen MDK-Reformgesetz fest.

Erarbeitet wurden die Vorschläge in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Gesundheitsforschungsinstitut Gesundheit Österreich im Rahmen eines Gutachtens für die Kassenärztliche Bundesvereinigung, den GKV-Spitzenverband sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Die drei Organisationen der Selbstverwaltung vereinbaren den AOP-Katalog sowie eine für Krankenhäuser und niedergelassene Vertragsärzt:innen einheitliche Vergütung der darin enthaltenen Leistungen. Die meisten der für eine Erweiterung vorgeschlagenen Leistungen, rund 60 Prozent (1.482 Leistungen), sind vor allem Operationen an der Haut, am Auge sowie am Muskel- und Skelettsystem.

„Manche von uns empfinden das IGES-Gutachten als Bedrohung, aber wir sollten es positiv sehen und nutzen“, sagte Gaß. Es brauche aber eine klare Abgrenzung von Leistungen im AOP-Katalog, die nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) vergütet werden, und klinisch-ambulanten Leistungen, für die eine Vergütung über Hybrid-DRGs unterhalb der vollstationären Vergütung vorstellbar sei, so Gaß.

Gaß, Hecken und Augurzky waren sich gestern einig, dass eine Vergütung der Leistungen im AOP-Katalog nach dem ambulanten EBM keine gute Idee sei. In den heutigen Strukturen könne ein Krankenhaus nicht effizient ambulant operieren. „Die haben ganz andere Betriebsabläufe“, sagte Hecken. Augurzky empfahl, ebenso wie Krankenhausmanager Gaß, nach der Einführung von Hybrid-DRGs eine Übergangsphase von drei oder fünf Jahren. Das sei nötig, damit Kliniken nicht durch plötzliche Erlöslücken „umkippen würden“. Er könne sich auch vorstellen, dass die komplex-ambulanten DRG/Hybrid-DRGs im ersten Jahr sogar besser vergütet würden als die vollstationäre Vergütung über DRGs, „da mit der Umstellung auf die ambulanten Prozesse auch Investitionen verbunden sind“, sagte Augurzky.

Ambulantisierung braucht gute Nachsorge

Das IGES-Gutachten, berichtete Martin Albrecht, Geschäftsführer Gesundheitspolitik des Instituts, habe auch gezeigt, dass es in den europäischen Vergleichsländern keine einheitliche Abgrenzung zwischen ambulant und stationär gebe. Stattdessen gebe es „vielschichtige Kriterien“, die nie rein medizinisch seien. Oftmals spielten auch die länderspezifische Historie oder zeitliche Aspekte (etwa die Narkosedauer) eine Rolle. Die Ambulantisierung in Europa erfolge oft innerhalb von Krankenhäusern; in den USA auch dynamischer aus Krankenhäusern heraus über Klinikambulanzen, ambulante OP-Praxen und Arztpraxen. Die weitreichende Ambulantisierung in den USA habe das System nicht preiswerter gemacht, führte Thomas Manksy, Bereichsleiter Gesundheitspolitik am IGES Institut, weiter aus. Für den Markt ambulanter Operationszentren werde dort ein Wachstum von sechs bis sieben Prozent jährlich erwartet. Dies habe das Interesse von Investoren geweckt. Für Deutschland ergebe sich aus den internationalen Erfahrungen, dass das System hinreichend differenziert werden müsse, um „das Rosinenpicken zu vermeiden“.

In jedem Behandlungsfall, so Mansky weiter, sei eine Prüfung des Behandlungskontextes, ob eine ambulante Behandlung bei den jeweiligen Patient:innen angebracht sei, „zwingend erforderlich“, denn OPS-Kodes enthielten in der Regel keine Informationen über behandelte Grund- oder Begleiterkrankungen. Auch müsse bei der Ambulantisierung eine „gute, systematisierte Nachsorge“ mitgedacht werden. Dafür brauche es Kooperationen mit ambulanten Diensten und Anbietern.

 Und, im Sinne der Qualitätssicherung, würden Krankenhausschließungen wohl nicht ausbleiben können. Derzeit, so Mansky, würden Strukturen finanziert, die nicht zukunftsfähig seien und auch nicht gebraucht würden. Allein in Berlin gebe es 63 Krankenhäuser, wovon 40 Herzinfarkte versorgten und die Charité deshalb über so wenig Fälle verfüge, dass sie sich keinen Anwesenheitsdienst für Herzkatheter leisten könne. „Das ist doch pervers. In den besten Einrichtungen, die wir haben, können wir die Qualität, die wir eigentlich auf die Straße bringen können, nicht sicherstellen, weil die Auslastung nicht stimmt“, kritisierte Mansky. Die Qualitätssicherung der ambulanten Behandlungen an Krankenhäusern dürfe zudem das medizinische Personal nicht mit weiteren Dokumentationspflichten belasten. Stattdessen empfahl er eine Qualitätssicherung über die Routinedaten bei Krankenkassen.

Es wäre schon jetzt mehr möglich

Schon jetzt, erinnerte Hecken, gebe es bereits eine ganze Menge an möglichen ambulanten Versorgungsformen im Krankenhaus – zum Beispiel geriatrische Institutsambulanzen oder sozialpädiatrische Zentren, „die aber selbst der Fachöffentlichkeit zum Teil unbekannt sind und da wissen sie, dass diese nicht reüssieren“. Auch über das Ausbaupotential der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) sprach Hecken. Dabei gebe es weiterhin eine „hohe Beteiligung der Krankenhäuser auf niedrigem Niveau der Ausgaben“, während der ambulante Bereich sich eher zurückhaltend beteilige. Hindernisse bei der Umsetzung der ASV gebe es immer noch viele – darunter ein aufwendiges Antragsverfahren mit deutlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern, einen „starren Ziffernkranz der abzurechnenden Leistungen“, welcher etwa die Versorgung von Komorbiditäten einschränke, und die fehlende Steuerung und Koordination der Versorgung des Patienten durch Case Manager, Lotsen oder Netzwerkmanager. Die ASV-Teamleiter seien hierfür ungeeignet, so Hecken, da es keine gemeinsame Patientenakte gebe und sie die meisten Patient:innen nie zu Gesicht bekämen.

 

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