Schelten für die Regierung
Von Gunnar Göpel, Tagesspiegel Background, 13.10.2022
Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz befindet sich – zum Entsetzen der meisten Akteure – auf der Zielgeraden. Der G-BA-Chef sowie Vertreter von Kassen und Pharma-Industrie sind sich einig, dass das Gesetz so nicht verabschiedet werden darf. Die Folgeschäden ließen sich nicht so einfach beheben.
Kritik an einem Bundesminister ist keine Rarität. Kritik an einem Bundesgesundheitsminister schon fast Tradition – es ist ein Job, den man wohl nicht so machen kann, dass alle zufrieden sind. Die Kritik an Karl Lauterbach (SPD) ist inzwischen nicht nur laut, sondern auch unüblich scharf.
Josef Hecken, Unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), ist ohnehin nicht leise, kritisierte Minister in der Vergangenheit oft ungefiltert und frei Schnauze. Gestern wünschte er sich aber gleich wortwörtlich einen neuen Gesundheitsminister, einen, der ihn zumindest anhören und zuhören würde. Denn das sei das Entscheidende, so Hecken: dass der Minister überhaupt mal mit den wesentlichen Akteuren spreche. Er sei in den letzten Jahren wöchentlich ins BMG einbestellt worden. „Bei Gröhe war es nett, bei Spahn unangenehm, weil der mich kleinmachen wollte, aber der hat wenigstens mit mir gesprochen“, so Hecken bei einer Veranstaltung der RS Medical Consult in Berlin.
Eine Meinung, die andere teilen. Einen neuen Pharma-Dialog würde sich die Industrie wünschen, aber das sei derzeit wohl in weiter Ferne, sagte Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Neun Monate hätten die Pharma-Verbände auf einen Termin mit dem Ministerium gewartet – und dann habe Minister Lauterbach dieses Treffen nach 33 Minuten mit dem Hinweis auf wichtige Termine beendet, berichtet er. Dabei seien die Branchenvertreter kaum zu Wort gekommen. Und auch GKV-Bosse hatten zuvor bereits erklärt, „die Faxen dicke zu haben“.
„Historische Einigkeit“
Der Frust sitzt tief im deutschen Gesundheitswesen. „Wahrscheinlich gab es historisch keinen Zeitpunkt, an dem es so eine große Einigkeit über alle Stakeholder im Gesundheitswesen hinweg darin gegeben hat, dass dieser aktuell diskutierte Gesetzentwurf so nicht passieren darf“, so Joachimsen weiter. Der gemeinte Gesetzentwurf ist der Kabinettsentwurf zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Das Gesetz werde keinem der Akteure im Gesundheitswesen gerecht, so Joachimsen. „Ich bin erschüttert, wie wenig sich das in Änderungsanträge übersetzt“, kritisierte er auch die Bundestags-Fraktionen. Und Hecken sagte: „Gerade sind wir dabei, mit Volldampf gegen die Wand zu fahren.“
Viel Zeit bleibt nicht mehr, um das Gesetz in andere Bahnen zu lenken. Am kommenden Mittwoch enden die Beratungen im Gesundheitsausschuss, am Donnerstag und Freitag finden die 2. und 3. Lesung statt. Stimmt der Bundesrat der Fristverkürzung zu, könnte das Gesetz am 28. Oktober auch dort seinen finalen zweiten Durchgang absolvieren.
„Die Post geht ab“
Weil es in der nahen Zukunt mehr Menschen im Rentenalter geben wird, werden auch die Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung bei gleichzeitig weniger Einnahmen steigen. „Daran kommen Sie nicht vorbei. Zwischen 2020 und 2035 geht demografisch die Post ab“, sagte Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK. Erst ab dem Jahr 2035 stabilisiere sich dies wieder.
Die Finanzierungslücke, deren fehlende 14 Milliarden Euro in diesem Jahr durch einen einmaligen Bundeszuschuss aufgefangen wurde, steigt nach IGES-Berechnungen auf 30 Milliarden Euro im Jahr 2025. Dafür fehlt noch immer eine Lösung in Form einer Strukturreform. Der Kabinettsbeschluss zum GKV-Finanzgesetz richtet sich nur an die Finanzlücke im kommenden Jahr. Storm kritisierte gestern Lauterbach für wiederum dessen Kritik an ausbleibenden Strukturreformen unter seinem Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU). Wenn man schon kritisiere, dass unter Spahn die Lücke durch einen einmaligen Bundeszuschuss geschlossen wurde, werde dies „nun noch dadurch getoppt“, dass die nächstjährige Finanzlücke durch einen „Zugriff auf sämtliche verfügbare Rücklagen“ geschlossen werden soll. Während unter anderem über den Rücklagenabbau der Kassen und ein rückzahlbares Darlehen zusammen insgesamt 10,9 Milliarden Euro flüssig gemacht werden sollen, machten die Maßnahmen, „bei denen der Minister von einer Hebung der Effizienzreserven spricht“, mit 2,1 Milliarden nur einen kleinen Teil des Pakets aus, so Storm.
Mit der Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel und einer auskömmlichen Finanzierung der Beiträge für ALG-II-Beziehende, die nicht nur jetzt im Koalitionsvertrag steht, sondern schon 2018 dort angekündigt, aber nicht umgesetzt wurde, könnte die Finanzlücke laut Storm weitgehend geschlossen werden. Forderungen, die gestern auch die Chefin des AOK-Bundesverbands, Carola Reimann, in einem Statement erneuerte. Auch den alternativen Vorschlag der Grünen-Bundestagsfraktion einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze findet Storm interessant, aber unwahrscheinlich in der Umsetzung gegen den Widerstand der PKV und einer FDP, die dies auf keinen Fall mittragen wolle.
„Die Probleme sind dieses Mal gravierender als bei vielen Finanzierungsdiskussionen in den letzten Jahren“, so Storm. März 2023, wenn das Kabinett die Eckpunkte zum Bundeshaushalt beschließen werde, sei ein entscheidender Zeitpunkt. „Wenn Lauterbach die 10 Milliarden für die ALG-II-Beiträge dann nicht bekommt, dann werden wir nur noch gucken können, wo wir etwas im System zurückbauen können“, sagte der DAK-Chef. Weil die Bundesregierung aber angekündigt habe, ab dem nächsten Jahr die Schuldenbremse wieder einhalten zu wollen, könne „Stand jetzt kein einziger Cent erwartet werden“. Realistischerweise seien die Lösungen im Bereich ALG-II-Beiträge und Mehrwertsteuersenkung auf Arzneimittel folglich nicht zu erwarten, so der Kassenchef. Und auch die Krankenhausstruktur-Reform, das sah auch Hecken so, werde erst einmal Geld kosten. „Damit werden wir auch keinen Sparbeitrag haben“, so Storm. Deshalb werde die nächste Reform im Frühjahr „auch nicht ohne eine Betrachtung des Arzneimittelsektors gehen“.
Einig waren sich Hecken und Storm gestern in vielen Punkten – auch bei der Erwartungshaltung zum GKV-Schätzerkreis, der gestern und heute tagt. Er gehe davon aus, sagte Hecken, dass heute „geschönte Daten im Schätzerkreis beschlossen werden“ und, ergänzte Storm, „die Welt schöner gemalt wird als sie ist“.
AMNOG-Vorhaben: Handwerklich schlecht gemacht?
Hecken kritisierte zudem, dass die geplanten Arzneimittel-Regelungen nicht gut gemacht seien, sich teilweise gar widersprechen würden. „Handwerklich ist das eine schwierige Kiste derzeit.“ Manche Regelungen seien „von der Intention richtig“, aber „in der Umsetzung stümperhaft“. So könne beispielsweise der geplante pauschale Abschlag von 20 Prozent auf Kombinationstherapien, ohne den Zusatznutzen dieser Kombination zu berücksichtigen oder den individuellen Mehrwert der Einzelsubstanzen in Betracht zu ziehen, möglicherweise rechtlichen Bedenken begegnen. Beispielsweise könnten die Einzelkomponenten einer Kombinationstherapie in unterschiedlichem Ausmaß zu einem Zusatznutzen beitragen. Diesem Unterschied könne eine pauschale Abschlagsregelung nicht gerecht werden, weshalb eine mögliche Sonderregelung oder die Aufnahme von Ausnahmeregelungen in Betracht gezogen werden sollte.
Mit Detailarbeiten an den 11 Prozent Arzneimittelkosten könnten Probleme mit den restlichen 89 Prozent der sonstigen Kosten ohnehin nicht gelöst werden, sagte Joachimsen. „Wir werden damit kein einziges Strukturdefizit lösen. Solange wir Krankenhaus-Strukturreform und Digitalisierung nicht in den Griff bekommen, brauchen wir über den Rest gar nicht reden“, so der Pharma-Vertreter. Die Arzneimittel-Vorschläge machten vieles kaputt, was im vergangenen Jahrzehnt pragmatisch aufgebaut worden sei, sind sich Hecken und Joachimsen einig.
„Wir können dankbar sein, dass wir das AMNOG in Deutschland haben und besser aufgestellt sind als die meisten europäischen Länder“, so der BPIHauptgeschäsführer weiter. Das stehe außer Frage. Es sei aber eben auch mal ein politischer Wille gewesen, dass in Deutschland der Zugang zu neuen Arzneimitteln, gerade bei seltenen Erkrankungen, schnell erfolge. Es gebe über 200 Orphan Drugs, aber auch über 8000 seltene Erkrankungen, die immer noch nicht behandelbar seien. Als das AMNOG erdacht worden sei, habe es kaum Zell- und Gentherapien gegeben. Auch der Pharma-Vertreter ist überzeugt, dass das AMNOG sinnvoll weiterentwickelt werden müsse. Über Möglichkeiten wie Pay-for-Performance-Modelle und andere Mechanismen sei mit der Politik noch überhaupt nicht richtig gesprochen worden. „Eine AMNOG-Reform in einem Finanzstabilisierungsgesetz mit zu erledigen, funktioniert nicht. Das AMNOG ist zu wertvoll, um es in einem Konvolut an anderen Regelungen zu verwässern.“
Wenn ein führender Pharma- und Kassenvertreter bei einer Veranstaltung zu Arzneimittelreformen und Einsparpotentialen nicht die Konfrontation suchen, sondern – trotz unterschiedlicher Vorstellungen und Perspektiven – im Schulterschluss ihre Aufmerksamkeit auf eine dritte Sache richten, dann brennt es wohl lichterloh.
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